E9N - ENSEMBLE 9. NOVEMBER

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»Die Obdachlosigkeit der Fische«


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Fotografie - Sabine Lippert
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»Die Obdachlosigkeit der Fische«

Wilhelm Genazino, literarischer Stadtflaneur aus Frankfurt am Main und Georg-Büchner-Preisträger 2004, ist ein Meister der Skurrilität. Genazinos schelmische Annäherung an die Alltäglichkeit wird dabei in immer neue sinnliche Bilder der Verwandlung übersetzt. Gilt die Sehnsucht seiner Verwandlungen dem Tier im Menschen oder dem Menschen im Tier?

Ein Flaneur erlebt auf seinem Weg durch die Stadt kleine überraschende metaphorische Fantastereien und Vexierspiele, häufig gespickt mit tierischen Verwandlungen seines Selbst und seiner Umwelt. Erzählt wird von Liebe, Geld, Fischen, städtischen Landschaften und sonstigen ironischen Alltagsdelikatessen. Mannigfaltige Exerzitien, u.a. der romantischen, der prosaischen, der philosophischen Liebe, und bitter-zarte Atemzüge des Lebensgeben sich ihr „Stelldichein“, jeweils in ganz eigener Gestalt.

So trifft in der vorletzten von 10 Stationen dieser Stadtballade die menschliche Menge auf den arbeitslosen Kindertrompetenverkäufer, zieht an ihm die nüchterne Bilanz des alltäglichen Auflösungsprozesses, der sich umwandelt in eine kollektive Meeressehnsucht nach der unendlichen Weite, in die Sehnsucht nach der Freiheit der Fische, die, schicksalhaft im letzten Hafen angekommen und in einer Holzkiste verpackt, nun nicht länger obdachlos sind.

Auf verschiedensten Ebenen des theatralischen Ausdrucks folgt die Inszenierung der Idee des Gesamtkunstwerkes mit eigens komponierter Live-Musik gespielt auf zahlreichen Instrumenten, vielschichtigen jazzigen Gesängen mit klassischen Elementen, Choreographien voller Poesie, auf Theater bezogenen Kunstobjekten von hoher Originalität und parallellaufenden Projektionen. In zehn Bildern agieren unter der Regie von Helen Körte vier SchauspielerInnen, ein Hip-Hop Tänzer und 3 Musiker.

KURZBIOGRAPHIE

WILHELM GENAZINO, geboren 1943 in Mannheim, arbeitete als freier Journalist, später als Redakteur, bei verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen. Seit 1971 ist er freier Schriftsteller (siehe Werke). W. Genazino lebt heute in Frankfurt am Main. Er ist der neue Gastdozent für Poetik an der Frankfurter Universität.

WERKE

1977 Abschaffel. Eine Trilogie
1989 Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz. Roman
1992 Leise singende Frauen. Roman
1994 Die Obdachlosigkeit der Fische. Roman
1996 Das Licht brennt ein Loch in den Tag. Roman
1998 Die Kassiererinnen. Roman
2000 Auf der Kippe. Ein Album
2001 Ein Regenschirm für diesen Tag. Roman
2003 Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman.
2004 Der gedehnte Blick
2005 Die Liebesblödigkeit

AUSZEICHNUNGEN

1986 Westermanns Literaturpreis
1990 Bremer Literaturpreis
1998 Großer Literaturpreis der Bayrischen Akademie der schönen Künste
2001 Kranichsteiner Literaturpreis des Deutschen Literaturfonds e.V. für
sein Gesamtwerk
2003 Kunstpreis Berlin ("Fontane-Preis" der Berliner Akademie der Künste,
Literatur)
2003 Hans-Fallada-Preis der Stadt Neumünster
2004 Georg-Büchner-Preis

PRESSESTIMMEN


Intelligent geblubbert

Kein Zoologe hat jemals mongolische Steinwidder beobachtet. Offenbar haben die Forscher immer am falschen Ort gesucht, in der Inneren Mongolei nämlich, obwohl diese Spezies doch einzig und allein in Frankfurter U-Bahnen grast - mit angeschlossenem Nachtquartier im Gallus-Theater, wo Helen Körte sie hegte und Wilfried Fiebig sie frisierte. Frankfurts Starfigaro Klaus Peter Ochs hätte den Widdern keinen schöneren Kopfputz verpassen können als der bildende Künstler Fiebig, der für die neue Theaterproduktion des "Ensemble 9. November" seinen geliebten Hegel einmal beiseite gelassen und statt dessen seine überbordende Phantasie in den Dienst der Regisseurin Körte, seiner Lebensgefährtin, gestellt hat.

"Die Obdachlosigkeit der Fische", so der Titel der Arbeit, ist mit der Mischung von Theater, Tanz, Musik und Plastik eine unverwechselbare Körte-Erfindung - und der Beweis dafür, daß ein Tischfeuerwerk manchmal phantastischere Leuchtbilder ausschleudern kann als das Raketengeschwader einer Großbühne. Auf jeden Fall hat man noch nie so intelligent blubbernde Fische gesehen wie in diesem Stück, als die vier Schauspieler sich in Meeresgetier verwandelten, in ihren langen Stoffröhren geschmeidig in einen Tiefseegraben tauchten und ewige Weisheiten murmelten wie: Tage ohne Liebe sind Anzahlungen auf den Tod.

Diesen Satz hat übrigens ein Büchner-Preisträger erfunden, Wilhelm Genazino, dessen Roman von 1994 "Die Obdachlosigkeit der Fische" Körte als eine Art Zoo benutzt hat, aus dessen Gehegen und Aquarien sie die delikatesten Geschöpfe aussuchte. Einmal hauchte sie auch einem hirnlosen Gegenstand Leben ein, dem Telefonbuch nämlich, das naß im Rinnstein liegt, aber auch in diesem Zustand noch so attraktiv ist, daß der Blick des Flaneurs wieder und wieder darauf fällt und in ihm gar Liebesgefühle entstehen läßt - was nicht verwundert, denn Raija Siikavirta, die hübsche Finnin, spielt dieses traurige Telekom-Kind. Wohingegen Katrin Schyns, die blonde Liebes-Heuschrecke, sich, wie schon häufig, als einnehmende Sängerin empfiehlt.

Überhaupt die Musik: Martin Lejeune, der Komponist, hat sie effektvoll abgestimmt auf die zehn Bildfolgen. Nur räumlich steht er am Rand, aber einmal übernimmt er zusammen mit Saxophonist Jens Hunstein und Perkussionist Timo Neumann die ganze Bühne. Es hätte ruhig zweimal oder dreimal sein dürfen. Aber das können die beiden mongolischen Steinwidder, Christian Lehmann-Carrasco und Fernando Fernandez, nicht zulassen. Gewiß, sie sind liebeskummerige Böcke, aber immer noch Böcke genug, um in männlicher Eigensucht die Geweihe ineinander zu verhaken.

Der Hip-Hop-Tänzer Damaso Mendez streut eine Prise Zirkus über diesen schön ausgedachten und genau choreografierten Liebes-Bilderbogen. Genauer: über eine Bildabfolge über Liebhaber und Geliebte, von denen Genazino sagt, daß sie nie Langeweile haben, wenn sie beieinander sind, weil sie beständig von sich selbst sprechen. Das mit dem "nie Langeweile haben" hat die Regisseurin Körte dann auch ganz ernst genommen.

HANS RIEBSAMEN, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.03.2006, Nr. 68



Tanz des Telefonbuchs

Da tanzt es für sich hin, das arme, kleine Telefonbuch. Auf jeden Fall kann nur Wilhelm Genazino den Impuls schildern, dass auch ein Telefonbuch, das auf der Straße liegt und nass und nässer wird, Mitleid erweckt. Und vielleicht kann nur das "Ensemble 9. November" das traurige Telefonbuch auch noch zum Tanzen bringen. Raija Siikavirta, das Telefonbuch, tanzt wie ein erschöpfter Tschaikowsky-Schwan. Martin Lejeune, der Musiker und Komponist, schickt vom Bühnenrand einige Tropfen Schwanensee herüber.

Auch arme Kerle, die Widder

Die Obdachlosigkeit der Fische ist ein Roman von 1994 (auch schon wieder zwölf Jahre her!) des späteren Georg-Büchner-Preisträgers. Der Truppe um die Regisseurin Helen Körte und den Künstler Wilfried Fiebig dient er als Grundlage für einen lose verknüpften Bilderbogen über Liebende. Denn auch bei Genazino geht es (natürlich) um die Liebe, die im Frankfurter Gallus-Theater nun in Einzelheiten zerlegt wird. Wie es anfängt, wie es ist, wie es aufhört. Als Widder begegnen sich Christian Lehmann-Carrasco und Fernando Fernandez - von Fiebig mit gigantischen Plastik-Widderhorn-Objekten ausgestattet - in der U-Bahn. Im pflichtgemäßen Kampf um eine Schöne stupsen die Widderhörner aneinander. Auch letztlich arme Kerle, die Widder.

Katrin Schyns und der Hip-Hop-Tänzer Damaso Mendez (als "special guest") kommen sich in anatomisch unwahrscheinlichen Bewegungen näher. Das ist das Bild Die Heuschreckenliebe. Groteske Rokoko-Beaus und Damen in Reifrockgestellen - und alle haben verlängerte Gabel-Arme - säuseln sich Worte aus dem Hohelied der Liebe zu. Fein, wie Katrin Schyns sagt, sie sei eine Mauer, und doch ein wenig staunt darüber. Das ist das Bild Die romantische Liebe.

Und ein Flatsch macht Quatsch

So geht es fort von einer Fantasterei zur nächsten, und zwischendurch kommt ein Flatsch und macht Quatsch (sagt Raija Siikavirta selbst, und sie sagt auch: "Ungefähr eine Stunde am Tag bin ich kindisch"). Und man versteht nicht alles, aber man versteht sehr wohl, warum das so komisch sein muss. "Jede Leidenschaft verleitet uns zu Fehlern, aber die Liebe zu den lächerlichsten", melden die Fisch- und Gockelköpfe und die gefiederten Freundinnen. Die drei Musiker - neben Lejeune (Gitarre und anderes) sitzen Jens Hunstein (Saxofon und anderes) und Timo Neumann (Percussion) - liefern dazu das Röhren, Sausen, den Liebes-Rap, die kleinen Zitate und nicht zuletzt eine schöne Unterhaltungsmusik ab.

Schon im April geht das neue Stück des Ensembles 9. November für ein Gastspiel nach Krakau. Ein solches Bild- und Maskentheater passt in der Tat ausgezeichnet in die mitteleuropäische Theatertradition. Den Text wird man selbstverständlich übersetzen müssen. "Nach vier Tagen war das Telefonbuch trocken. Es war schöner als je zuvor." So etwas darf man sich nicht entgehen lassen, zwischen der aparten Scharade.

JUDITH VON STERNBURG, FRANKFURTER RUNDSCHAU 18.3.2006



Ein Wattwurm geht spazieren

Helen Körte spendierte Genazinos „Obdachlosigkeit der Fische“ im Gallus- Theater Frankfurt ein gefälliges Dach über dem Kopf.

Dünne Stoffwände an den Deckenschienen bilden die Räume für das quecksilbrige Geschehen und aphoristisch zugespitzte Sentenzen der skurril kostümierten Figuren. Öffnen den Raum, verleihen ihm kantige Geometrien, fahren in Kurven beiseite oder bilden eine Burg aus Stoffsäulen; scheinen je nach Licht und Erfordernis durch oder schließen ab. Vermitteln oft Leichtigkeit, hin und wieder Schwere (Bühne, Objekte: Wilfried Fiebig).

Was sich hier abspielt, antwortet formal wie thematisch der flanierenden Prosa des Büchner-Preisträgers Wilhelm Genazino. Körtes Darsteller kombinieren tänzerisch-fließend einen poetischen Stadtspaziergang mit bildhaften Details rund ums Grundmotiv. Eine alternde Frau erinnert sich in wechselnden Bildern einer Jugendliebe: letztes Aufglimmen schwindender Erinnerung. Raija Siikavirta als Unsinnsverse ausstoßendes Fabelwesen im Ballerinarock und als Telefonbuch, die „Heuschrecke“ Katrin Schyns in Blau, der flanierende Beobachter Christian Lehmann-Carrasco und sein Gegen-Widder Fernando Fernandez – sie alle huschen und treiben komisch umher, reißen Situationen an, rezitieren das Hohelied der Liebe oder zelebrieren die eigene Auflösung. Werden in grotesken Masken Fisch und Vogel, zu Wattwürmern im projizierten Meer vom Fischmarkt, der den „Obdachlosen“ ein Heim gibt. Die Bühne, ein Aquarium? Glucks.

Die taumelnd-clowneske Bewegungssprache mit Breakdance-Elementen (Damaso Mendez), der willig skurrile bis fusionmäßig elektrisierte Jazz Martin Lejeunes, der mit Mandoline im Trio über die Bühne scattet, sowie Körtes Unrast-Regie: Sie alle wuchern kurzweilig mit der ästhetischen Formel des „Ensembles 9. November (E9N)“. Nicht auf Kosten der schönen Schwebe aus Rhythmus, Zeichen-Polyfonie und kultiviertem Geschmack, dieser charakteristischen Intellektualität des „E9N“. Aber das Gesamtkunstwerk mit dem Gewicht von Themen wie Krieg und Europa weicht einem Collage- Gestus. Der Fundus der historischen Avantgarden, im „E9N“ oft auf Neue Musik abonniert, flirtet mit Jazz und Hip-Hop. Verspielt-verspiegelte Spinnereien – erlebenswert!

MARCUS HLADEK, NEUE PRESSE Frankfurt



Surrealistisches Kabinett

Der in Frankfurt lebende Schriftsteller Wilhelm Genazino ist vor allem als literarischer Flaneur bekannt. Es sind Beobachtungen des Beiläufigen, kleine Gesten etwa, aus denen er Betrachtungen von existenzieller Tiefe schöpft. Schon vor Jahren hat Helen Körte, Regisseurin und Gründerin des Frankfurter Ensembles 9. November, eine Szene aus einem Hörspiel Genazinos verwendet. Nun hat sie im Gallus-Theater eine Dramatisierung „nach“ Genazino auf die Bühne gebracht. Der Zugriff ist, wie immer, ein freier. Körte hat auch Textsprengsel anderer Autoren eingearbeitet.

Die „musiktheatralische Stadtballade“ beginnt mit einem Kabinett aphoristischer (Graffiti-)Sprüche. Das rasante Kreuz und Quer der Spieler Katrin Schyns, Raija Siikavirta, Fernando Fernandez und Christian Lehmann-Carrasco wird angetrieben von einem mit viel Druck aufspielenden Jazztrio unter Anführung des Gitarristen Martin Lejeune.

Die Bilderfolge behält zunächst einen forcierten Rhythmus bei, für unterhaltsame Kurzweil ist gesorgt. Als Gast drückt der Breakdancer Damaso Mendes mit seinen rasanten Einlagen zusätzlich auf die Tube. In diesem Zusammenhang erlebt man groovende James-Brown-Funkriffs auf dem Banjo, was wohl eine Weltpremiere sein dürfte. Überhaupt ist die atmosphärisch aufgeladene Musik Martin Lejeunes, aufgeführt zusammen mit dem Multibläser Jens Hunstein und dem Schlagwerker Timo Neumann, eine tragende Säule. Die Musiker sind im äußersten Maße beweglich, sie zitieren Melodien und Stile mannigfach.

Die Liebe, die schwierige, ist eines der Hauptmotive in „Die Obdachlosigkeit der Fische“. Beim Anblick der innigen Idylle zweier junger Liebender fühlt sich der Beobachter an Heuschrecken erinnert. Die Figuren, die Margarete Berghoff in Kostüme im Stil einer fantastischen Moderne gekleidet und Bühnenbildner Wilfried Fiebig mit Objekten aus durchsichtigem Kunststoff ausgestattet hat, erinnern an Traumgestalten aus einem surrealistischen Kabarett. An einer Stelle fühlt sich der Erzähler in einen mongolischen Steinwidder verwandelt. Die Hörner, überdimensionale Plastikspiralen, wirken grotesk, wie so vieles an diesem Abend. In den letzten Bildern, als es zu den in einem Fischgeschäft liegenen Titeltieren geht, wird das Tempo zurückgenommen und passt sich eher den Schritten des Flaneurs an.

Das Stück besticht durch eine wohltuende Leichtigkeit, über der die Melancholie der Vorlage nicht verloren geht. Im Gegensatz zur oft barock überbordenden Bildfülle wirkt dieser Abend eher schlicht, was ihm gut bekommt. Helen Körte und das Ensemble 9. November erkennt man freilich auch im Wandel noch sehr gut wieder.

STEFAN MICHALZIK, Offenbach-Post, Montag, 20. März 2006